In wenigen Tagen, am 29. Mai, jährt sich der mörderische Brandanschlag auf ein von türkischen Migrant*innen bewohntes Haus in Solingen zum 25. Mal. Aus diesem Anlass wird es am 26. Mai eine große Demonstration in Gedenken an die Opfer dieser rechtsmotivierten, rassistischen Tat geben. Als Teil der Kampagne Nationalismus ist keine Alternative (NIKA) in NRW rufen auch wir zur Teilnahme auf. Auch wenn Solingen nicht gerade um die Ecke liegt und wir uns früh auf den Weg machen müssen, um um 12 Uhr im Südpark in Solingen-Mitte am Startpunkt zu sein, möchten wir euch einladen, gemeinsam mit uns dorthin zu fahren. Haltet euch den Termin frei und die Ohren offen oder überlegt euch selbst, wie ihr am Sonntag, dem 26. Mai, nach Solingen kommt. Im Folgenden dokumentieren wir den gemeinsamen Aufruf der NIKA NRW-Gruppen:
The Truth lies in Solingen
Am frühen Morgen des 29.Mai 1993 wurde auf das Haus der Familie Genç ein Brandanschlag verübt. Bei dem Anschlag, dem ein neonazistisches Motiv zugrunde lag, kamen Hatice Genç, Hülya Genç, Saime Genç, Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk durch die Flammen ums Leben.
Dieses Ereignis kam nicht aus heiterem Himmel. Eine erschreckende Kampagne der gesellschaftlichen Rechtsverschiebung war dem Mordanschlag vorausgegangen. Die jugendlichen Neonazitäter hatten sich in einer Atmosphäre, in der rassistischer Hass Normalität geworden war, ermächtigt gefühlt, das zu vollstrecken, was sie für den „Volkswillen“ hielten: Die gewaltsame Entfernung von Menschen aus der Mitte dessen, was die Täter als Volksgemeinschaft betrachteten.
Die 90er Jahre waren im Rahmen der Einverleibung der DDR in die BRD von einer Welle des deutschen Nationalismus geprägt. Die DDR-Wirtschaft konnte mit der Westwirtschaft nicht konkurrieren und zerfiel in rasendem Tempo. Zurück blieben Arbeitslosigkeit, soziale Verwerfungen und Perspektivlosigkeit, die mit dem aufschäumenden Nationalismus eine Grundlage für den gewaltsamen nationalistischen Terror, der der Wiedervereinigung folgte, lieferten. Die Hochkonjunktur rechter, rassistischer Ressentiments in der Bevölkerung fand ihre Entsprechung sowohl in der Medienlandschaft als auch der parlamentarischen Politik. Der Spiegel titelte bereits im September 1991 „Das Boot ist voll“, weitere rassistische Phantasierereien ließen nicht lange auf sich warten. Den Unionsparteien erwuchs mit den Republikanern eine Konkurrenz von rechts, deren Druck sie begegneten, indem sie deren Programmpunkte weitreichend übernahmen. Die rassistische Medien- und Gewaltkampagne gipfelte in der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Neonazis, Bürger*innen und die etablierten Parteien zogen an einem Strang und verkündeten unisono, dass in Deutschland kein Platz mehr sei für Asylsuchende. Noch während des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen vereinbarten CDU/CSU, FDP und SPD die Grundgesetzänderung.
Am 26. Mai 1993 wurde schließlich der Grundgesetzartikel 16 gestrichen, der – als politisches Bekenntnis nach dem Nationalsozialismus –, allen „politisch Verfolgten“ einen Rechtsanspruch auf Asyl eingeräumt hatte. Ersetzt wurde er durch den Abschiebe-Artikel 16a. Die Gesetzesverschärfung gab den Rassist*innen die Bestätigung, die sie sich brauchten. Die Reaktion waren Mordanschläge wie der von Solingen, der nur drei Tage nach der Verschärfung geschah. Am Ende stand der Mord an Hatice Genç, Hülya Genç, Saime Genç, Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk.
Der Rechtsruck der 90er Jahre brachte eine Normalisierung des Rassismus mit sich, in der Anschläge auf Heime geflüchteter Menschen in trauriger Regelmäßigkeit stattfanden. Die Mörder*innen professionalisierten ihr Vorgehen darüber hinaus auf grausame Weise: Aus der Neonazigeneration dieser Zeit rekrutierte sich der sogenannte „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU), dessen bundesweite Mordserie 10 Opfer forderte.
Die Zusammenstellung der gesellschaftlichen Grundlagen, die den Mordanschlag von Solingen möglich gemacht haben, ähnelt in unheilvoller Weise einer Beschreibung der heutigen Zustände.
Die heutige Rechtsverschiebung in der Gesellschaft findet vor dem Hintergrund der sogenannten „Flüchtlingskrise“ statt. Im Rahmen u.a. des Bürgerkrieges in Syrien kam es ab Beginn der 2010er Jahre zu Fluchtbewegungen, welche überwiegend den globalen Norden als Ziel hatten. Die europäischen Gesellschaften reagierten auf diese Fluchtbewegungen mit einem unterschiedlichen Maß an Abschottung. Hatte die vorangegangene Weltwirtschaftskrise bereits Abstiegsängste und soziale Perspektivlosigkeit in breite Gesellschaftsschichten getragen, so sorgte nun die eingebildete Bedrohung durch die Geflüchteten für eine Überleitung von der sozialen Prekarität in rassistischen und nationalistischen Hass. Die damals vorgenommene Verschärfung des Asylparagraphen ist auch eine der Grundlagen des tausendfachen Todes an den europäischen Außengrenzen. Die skrupellose Abwehr von flüchtenden Menschen, die in immer brutalere Krisen- und Bürgerkriegsgebiete zurückgeschoben und dort ihrem Schicksal überlassen werden, wäre ohne die faktische Abschaffung des Asylparagraphen in den 90ern nicht möglich gewesen. Die heutige gesellschaftliche Rechtsverschiebung, und die Ereignisse, die sie voran treiben, treten so in Wechselwirkung mit der damaligen Verschärfung. In Deutschland inszenierte sich die große Koalitionsregierung unter Angela Merkel zunächst als den geflüchteten Menschen gegenüber offen. Direkt von Beginn an wurde aber mit dem Begriff „Flüchtlingskrise“ das Problem bei den Geflüchteten ausgemacht, nicht etwa bei den systemischen Ursachen für deren Flucht. Darüber hinaus war der Mob auf der Straße mit völkischen Großdemonstrationen wie denen von Pegida und Brandanschlägen auf Asylbewerber*innenheime direkt präsent. Die Politik reagierte mehr als bereitwillig auf die Signale der Straße. Das nach rechts Rücken von Parteien wie CDU und CSU ist dabei nicht nur zu verstehen als ein Nachgeben gegenüber dem Druck von offen völkisch-nationalistisch auftretenden Parteien wie der AfD. Vielmehr bietet der zunehmend weiter nach rechts offene gesellschaftliche Konsens auch dem autoritären Potential der konservativen Parteien die Möglichkeit, sich frei zu entfalten. Wenn Markus Söder unter dem Zeichen des Kreuzes den Kulturkampf gegen Muslime ausruft, tut er das nicht, weil die AfD-Konkurrenz von rechts ihn dazu zwingt, sondern weil die AfD-Konkurrenz von rechts kulturalistischen Rassismus derart normal macht, dass nun auch etablierte Politiker*innen offen damit auftreten können. Die Normalität der Rassismus in der Debatte bleibt nicht die Form des Austausches von Positionen am Parlamentstisch, als die sie Fans der „offenen Gesellschaft“ ohnehin immer nur imaginieren. Sie macht sich auf der Straße bemerkbar in Gewalt gegen Menschen mit Kopftuch oder Kippa, sie macht sich bemerkbar in Brandanschlägen auf Moscheen, Synagogen und Asylbewerber*innenheime. Wer meint, die demokratische Debatte würde facettenreicher, wenn sich ihr Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und ein aggressiver Nationalismus als Normalität hinzufügen, missachtet das Verschwinden von grundlegenden demokratischen Freiheiten wie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit bei Gruppen, die in der völkischen Ideologie nicht dazu gehören.
Die Täter von Solingen wurden durch die Stadtgesellschaft verteidigt, es kursierte die Behauptung, man habe „die Falschen erwischt“, es sei eine „betrunkene Tat“ gewesen. Es fand eine Entpolitisierung der faschistischen Ideologie der Mörder statt, die deren vorhergegangene Äußerungen, es sei etwas „gegen das Türkenhaus zu tun“, nicht als Alarmsignale wertete.
Eine ähnliche Entpolitisierung erfahren heute selbst drastisch rassistische Äußerungen: Sie werden als berechtigte, diskussionswürdige „Ängste“ von „Bürgern“ gekennzeichnet. Sobald völkische Phantasien von respektierten Mitgliedern der Mitte der Gesellschaft geäußert werden, gelten sie als zu respektierende, mindestens diskussionswürdige Positionen, wie es Aussagen von Boris Palmer zeigen. Dieser gab in einem Interview mit dem Spiegel zu Protokoll, ein Freund von ihm (ein Professor, wohlgemerkt) ließe seine blonden Töchter aus Angst vor geflüchteten Menschen nicht mehr auf die Straße. Die Phantasie, der von außen kommende Wilde bedrohe die eingeborenen Frauen, die als Besitz des deutschen Mannes und nicht etwa als eigenständige Subjekte imaginiert werden, gehört zum Einmaleins des nationalistischen Rassismus. Die Normalität solcher Positionen in der Debatte ermutigt die Mörder*innen der Zukunft.
Die Vergangenheit zeigt, dass es nicht bei der Debattenverschiebung bleibt. Wenn dem rassistischen Mob nachgegeben wird, gibt er sich nicht zufrieden, sondern schreit mit nur größerem Selbstbewusstsein nach Blut. Heute ist der angloeuropäische Rechtsruck sehr viel weiter fortgeschritten, als er es in den 90ern jemals war. Mit der AfD ist eine Partei im Bundestag vertreten, von der weder deren faschistoide Rhetorik noch deren Beschäftigung von erwiesenen Neonazis als Mitarbeiter*innen als Grund gilt, ihnen die Debatte zu verweigern. Der Kreuzritter Markus Söder führt den Kulturkampf in einer Art und Weise, die selbst den offiziellen Vertretern des großen Mackers im Himmel, der katholischen Kirche unheimlich wird. Wenn die größte reaktionäre Organisation in Deutschland, die nachwievor offen Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen praktiziert, ermahnt, dieses Vorgehen wiederspräche ihren Vorstellungen von friedlichem Zusammenleben, wäre es vielleicht mal an der Zeit, nachzudenken, was gerade an demokratischen Grundlagen mit großem Eifer auf den Müllhaufen der Geschichte befördert wird. Hierzu gehört nicht nur die Verschärfung der Asylgesetze, die auch unabhängig von den Ereignissen der 90er, ausgelöst durch aktuelle Debatten, geschieht. Hierzu gehört auch, dass die neue Regierung ein Heimatministerium unterhält, dass die nationale Identität streichelt, während Menschen, die dieser nicht entsprechen, ausgegrenzt werden. Hierzu zählt auch das eben verabschiedete bayrische Polizeigesetz, welches der Behörde eine Handlungsmacht gibt, die in der deutschen Polizeigeschichte als letztes die Gestapo besaß. Dieses Umdenken steht jedoch nicht bevor. Dieses Umdenken kann nur erkämpft werden durch entschlossenen Widerstand all derjenigen, die sich mit der immer weiteren Normalisierung von Rassismus und Faschismus in der Gesellschaft nicht abfinden wollen. Zu diesem Widerstand ist wirklich jede und jeder aufgerufen. Wer an unseren Warnungen zweifelt, der möge sich die jüngste Vergangenheit ansehen. Die Trümmer, unter denen die Leben von Hatice Genç, Hülya Genç, Saime Genç, Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk ausgelöscht wurden, rauchen noch. The truth lies in Solingen. Eine solche mörderische Gewalt darf sich niemals wiederholen. Wir alle sind gefragt.
Wenn ihr mit uns ein Zeichen des aktiven Gedenkens an die Opfer des Brandanschlags von Solingen setzen wollt, dann kommt am Samstag, dem 26. Mai 2018, mit uns zum Südpark Solingen zur gemeinsamen Gedenkdemonstration.
Infos zur Demo unter: solingen1993.info