Flyer 2 (Holtkamp)

Holtkamp 2 Vorne Holtkamp 2 Hinten

Dieser Flyer wurde in Werne im Juli 2016 im Bereich rund um den Holtkamp verteilt. Im Folgenden möchten wir uns mit den Behauptungen dieses Flyers beschäftigen. Der folgende Text erschien auch in einer gekürzten Version als Flugblatt.

Alles Chaos, oder was?

Der Text des Flugblatts beginnt bereits mit einer klassischen Verschwörungstheorie: eine ominöse „Geldkaste“ zwingt uns angeblich „Krisen, Kriege“ und „Chaos“ auf. Um ein Gefühl davon zu erhalten, was dieses Chaos denn sein soll, lohnt ein Blick in die folgenden Zeilen. Begriffe wie „Überschuldung“ oder „Gesetzesmißachtung“ sind ja noch recht gut verständlich. Die „sittliche Verwahrlosung“ ist schon ein bisschen unklarer – ist das Färben von Haaren unsittlich? Oder Sex vor der Ehe? Oder mit vollem Mund zu sprechen? Und wenn ja, ist das tatsächlich ein Zeichen von „erzwungener Völkervernichtung“? Es gibt aber auch Begriffe, die nicht sofort klar werden, wenn mensch kein Neonazi oder Fan von Verschwörungstheorien ist.
Da wäre zum Beispiel die angebliche „Umvolkung“. Darunter verstehen Rechte und Verschwörungstheoretiker*innen einen eingebildeten geplanten „Austausch“ des deutschen Volkes (was auch immer das sein mag) durch Immigrations- und Fluchtbewegungen vermeintlich anderer „Völker“ aus dem Ausland. Hier wird ein biologischer Volksbegriff benutzt, nach dem das deutsche Volk sich durch die genetische Abstammung und die Geburt auf dem deutschen Staatsgebiet auszeichnet – simple Blut-und-Boden-Rhetorik also, wie sie bereits die Nazis benutzt haben. Damit werden alle Menschen aus dem „Volk“ ausgeschlossen, die keine deutschen Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und so weiter haben. Eine solche Vorstellung ist nicht nur eine Grundlage von Nationalismus und Rassismus, sie geht auch völlig an der Realität vorbei, denn Menschen unterschiedlichster Herkunft zeugen seit jeher gemeinsam Nachkommen und verlassen auch schon seit eh und je ihre Geburtsorte, um sich an anderen Orten und auch in anderen Ländern niederzulassen.
Ein weiterer Begriff, der vielleicht zusätzlicher Erklärung bedarf, ist der der „Familienzerstörung“. Nicht nur in rechten Kreisen, auch unter Konservativen oder christlichen Fundamentalist*innen glauben viele Menschen, dass die Familie abgeschafft wird. Sie glauben, dass z.B. die Öffnung der Ehe oder des Adoptionsrechts für Homosexuelle oder auch die Erwerbstätigkeit von Frauen* verhindern, dass „richtige“ Familien aussterben und damit dann auch letztlich das „deutsche Volk“ aussterben könnte. Als „richtige“ Familie akzeptieren diese Menschen nur die heterosexuelle Familie mit Mutter, Vater und (leiblichen) Kindern. Es geht ihnen also vor allem um die Form der Familie – nicht um den Inhalt. Der Inhalt ist aber das eigentlich entscheidende: es gibt keinen Grund, warum ein Kind, dass in einer liebevollen Familie mit zwei homosexuellen Vätern aufwächst, irgendwie schlechter dran sein sollte als ein Kind, dass in einer „richtigen Familie“ aufwächst, in der der Vater die Kinder schlägt oder Ähnliches. Entscheidend ist, dass eine Familie aus Menschen besteht, die aufeinander aufpassen und für einander sorgen. Ebenso sollten diese dogmatischen Fans der traditionellen Familie endlich akzeptieren, dass die Entscheidung zu einer Erwerbstätigkeit allein bei den Frauen* selbst liegt. De facto handelt es sich bei den selbsternannten Familienschützer*innen meist um Menschen (häufig heterosexuelle Männer), die vor allem ein Problem damit haben, dass Homosexuelle oder selbständige Frauen die gleichen Möglichkeiten haben sollen, ihr Leben zu gestalten, wie sie selbst.
In eine ähnliche Richtung geht die Dramatisierung eines vorgestellten „Genderwahns“. Mit dem Label Genderwahn werden vor allem Bestrebungen verunglimpft, die z.B. dafür sensibilisieren sollen, dass es auf der Welt eben nicht nur (heterosexuelle) Männer und Frauen gibt, sondern auch Menschen, die sich nicht in dieser Ordnung wiederfinden wie queere oder Trans*-Menschen. Und (in der Vorstellung der Autor*innen des Flugblatts) noch viel schlimmer: diese Menschen sollen genauso am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen wie diejenigen, die sich mit dem Geschlecht, dass ihnen bei ihrer Geburt zugeschrieben wurde – also Mann oder Frau – identifizieren. Der zentrale Punkt ist also grob zusammengefasst, lediglich auf die Vielfalt von Geschlechtern hinzuweisen und Gleichberechtigung unter diesen zu schaffen. Warum das schlecht sein soll, finden wir nicht wirklich nachvollziehbar.
Die Gesellschaft ist also angeblich davon bedroht, dass Geflüchtete und Migrant*innen nach Deutschland kommen und hier Kinder bekommen, dass auch homosexuelle Paare Kinder großziehen möchten, dass Mama nicht den ganzen Tag am Herd steht und dass z.B. dein*e transsexuelle Nachbar*in nicht als „krank“ bezeichnet werden möchte, sondern sich genauso ein schönes Leben wünscht wie alle anderen auch. Das sagt eigentlich weniger über das vermeintliche „Chaos“ aus als über die Verfasser*innen des Flugblatts. Es handelt sich um Menschen, die von Teilen des sozialen Wandels verunsichert werden, die Änderungen nicht als etwas begreifen, dass mehr Menschen die Möglichkeit bietet, ihr Leben selbst zu gestalten und sich nicht verstecken oder verstellen zu müssen. Sie fürchten sich vor dem Verlust ihrer eigenen Privilegien. Es handelt sich um Menschen, die, anstatt sich um ihren eigenen Kram zu kümmern, nicht damit klar kommen, dass ihr Lebensstil nicht mehr das „normale“ ist, sondern nur eine Möglichkeit unter vielen.

Die Verschworenen haben ihr Urteil gefällt…

Jetzt, wo wir wissen, wovor die Urheber*innen des Flugblatts so große Angst haben, können wir zu der Frage kommen, wer eigentlich diese Geldkaste sein soll, die für all das verantwortlich gemacht wird. Bereits die Bezeichnung „Geldkaste“ gibt schon einen ersten Hinweis. Es handelt sich scheinbar um Menschen, die viel Geld besitzen oder viel damit zu tun haben sollen. Außerdem wird behauptet, dass z.B. die Regierung, Parteien und die Medien unter ihrer Kontrolle stehen sollen. Großen Einfluss hat diese Geldkaste also wohl auch. Bereits hier sollte klar sein, dass es sich um eine Verschwörungstheorie handelt: eine kleine Gruppe von Menschen soll angeblich mächtig genug sein, um ganze Gesellschaften aus dem Verborgenen heraus zu lenken und selbst so umfassende und vielschichtige soziale Prozesse wie Migrationsbewegungen steuern zu können. Hier wird also die Komplexität hinter solchen Prozessen ignoriert und stattdessen ein einziger Schuldiger für alles gefunden. Leider ist die Welt nicht ganz so einfach gestrickt. Aber nochmal zurück zu der dubiosen Geldkaste: weiterhin wird geschrieben, dass diese offenbar bestimmte Wesensmerkmale wie Heuchelei, Täuschung und Betrug aufweise. Der Hinweis auf einen Gott, dem die Angehörigen der Geldkaste huldigen (hier wird sich auf eine Bibelstelle berufen – ein ziemlich schwacher Beleg), sollte langsam eindeutig zeigen, wer hier für alles, was die Urheber*innen des Flugblatts schlimm finden, verantwortlich gemacht wird.
Allen, die noch nicht wissen, worum es geht, können sich einfach die Rückseite des Papiers anschauen. Dort steht dann unter der zeichensetzungsfeindlichen Überschrift „Wer ist! + wem dient, Merkel?“ ausbuchstabiert, was auf der Vorderseite nur angedeutet worden war: Schuld seien die Jüd*innen. Die Autor*innen können also getrost als Antisemit*innen bezeichnet werden, also Leute, die pauschal Jüd*innen oder dem Judentum feindlich gesinnt sind. Sie glauben, dass Jüd*innen für alle Fehler der Welt verantwortlich sind und nur das Ziel haben, sich selbst zu bereichern. Dafür finden sich freilich keine wirklichen Beweise. Antisemit*innen behaupten dann, dass das daran liegt, dass Jüd*innen aus dem Verborgenen, hinter den Kulissen handeln – als Verschwörung eben.

Mit Putin gegen die Weltverschwörung

Im weiteren Verlauf wird dann „aufgedeckt“, dass Angela Merkel sich angeblich den Jüd*innen zugehörig fühlt und deshalb die „Vernichtung der Völker“ anstrebt. Warum? Mit solchen Fragen halten sich die Autor*innen nicht weiter auf. Ist halt so. Die EU wird als Diktatur bezeichnet, die von „den Juden“ gelenkt wird. Das einzige, was der Weltherrschaft noch im Weg steht, ist dem rechten Flyer zufolge Russland, das niedergeworfen werden soll. Auch hier bleiben die Autor*innen eine Erklärung schuldig. Dass Anhänger*innen von Verschwörungstheorien in Russland und genauer in Putin ihren großen Helden sehen, ist nichts Neues. Das konnte mensch schon bei den sogenannten „Mahnwachen für den Frieden“ beobachten. Wie sie darauf kommen, dass eine „Niederwerfung Rußlands“ bevorstünde oder auch nur angestrebt wird, bleibt allerdings schleierhaft.
Aber auch rassistische Phrasen hat das Flugblatt zu bieten: ein Instrument, um die Weltherrschaft zu erreichen, soll eine „von Merkel erzwungene Völkervermischung“ sein. Nicht nur, dass Menschen hier als Teile von klar trennbaren unterschiedlichen „Völkern“ verstanden werden, eine „Mischung“ solcher Völker soll angeblich dazu beitragen, die Menschen „gefügig“ zu machen. Wie das funktioniert oder auch wie so eine „Völkervermischung“ erzwungen werden kann, bleibt erneut das Geheimnis der Verfasser*innen.
Woraus sie allerdings kein Geheimnis machen, ist ihre eigene Gessinnung. Diese stellen sie offen zur Schau, indem sie am Ende auf die Aktion Freies Deutschland (AFD) verweisen (mehr dazu hier). Die Seite des Neonazis und Holocaust-Leugners Wolfgang Juchem stellt beispielsweise Broschüren wie „Vater, ich bin stolz auf dich“ zur Verfügung, in denen deutsche Kriegsverbrechen relativiert oder sogar gänzlich geleugnet werden (mehr zur Person). Die Autor*innen des rechten Flyers beziehen sich damit klar auf neonazistische, antisemitische und geschichtsrevisionistische Inhalte.