Nachbereitung 9.11.

Die Kundgebung, abgeschirmt von Transpis

Am 9.11.2014 wurde in Werne anlässlich der Reichspogromnacht, die sich zum 76. mal jährte, eine Gedenkkundgebung vom Werner Bündnis gegen Rechts in Kooperation mit der Antifa Werne organisiert. Es waren ca. 30 Menschen mit Transparenten und Fahnen anwesend, auch Pressemenschen von außerhalb kamen. Nach einem anfänglichen Gespräch mit dem Westfälischen Anzeiger Werne und einiger Diskussion zum Thema gab es einen ausführlichen Redebeitrag der Bündnisgruppen, in dem Themen wie der Begriff “Reichskristallnacht”, der auch auf der neuen Gedenktafel an der alten Synagoge in Werne zu sehen ist, der Ablauf der Reichspogromnacht in Werne und die Notwendigkeit, sich auch heute noch gegen Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus zu engagieren, behandelt wurden.

Im Anschluss an die Kundgebung gab es dann noch einen gemeinsamen Rundgang entlang der Stolpersteine in Werne, wobei es noch einmal Zeit zum Austausch untereinander gab. Für jede Familie wurde eine Kerze, zusammen mit einem auf das Glas geschriebenen Spruch, an den Stolpersteinen aufgestellt und es wurde mit ein paar Worten auf ihr Schicksal eingegangen. Der Rundgang endete an der Gedenktafel am ehemaligen Standort der Synagoge, wo symbolisch eine Kerze mit dem Spruch “Erinnern heißt Kämpfen” aufgestellt wurde. Da verkaufsoffener Sonntag war, stieß die Aktion auf breites Interesse bei den Menschen in der gefüllten Fußgängerzone, die fast alle dank der Kerzen auf die Stolpersteine aufmerksam wurden und diese eingehend betrachteten. Insgesamt war dies also ein gelungener Tag für das Werner Bündnis gegen Rechts und die Antifa Werne, da erfolgreich für das Thema Antisemitismus und das Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht sensibilisiert werden konnte.

Im folgenden noch der Redebeitrag des Werner Bündnisses gegen Rechts:

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 begannen die Novemberpogrome im gesamten Deutschen Reich. Überall plünderten und zerstörten Nazis und „ganz normale“ Bürger*innen jüdische Geschäfte, Synagogen und Wohnungen, griffen jüdische Menschen oder solche, die sie dafür hielten,- an, verprügelten, misshandelten, demütigten sie. Am Tag danach wurden viele der Männer verhaftet – der jüdischen Männer versteht sich. Ungefähr 400 jüdische Menschen überlebten die Pogrome nicht, weil sie in den Selbstmord getrieben wurden, auf der Flucht vor dem tobenden Mob verunglückten oder gleich umgebracht wurden. Die Novemberpogrome waren ein Beweis für die NSDAP, dass die Bevölkerung die antisemitische und rassistische Politik mitträgt und bereit ist physische Angriffe gegen als nicht-arisch wahrgenommene Menschengruppen zu akzeptieren und sogar zu unterstützen. Denn Widerstand gab es nur vereinzelt – wenn überhaupt.
Die Reichspogromnacht leitete die systematische Verfolgung, Deportation und schließlich die Vernichtung der ohnehin schon diskriminierten jüdischen Bevölkerung ein. Der Holocaust oder die Shoah gilt bis heute als ein beispielsloses Verbrechen der Menschheitsgeschichte, als die krasseste Umsetzung eines eliminatorischen Antisemitismus’.
In Werne gingen die Uhren nicht anders – die Synagoge wurde zerstört, Geschäfte verwüstet, jüdische Menschen zusammengeschlagen. Nazis und deutscher Mob ließen dem Hass freien Lauf und am folgenden Tag wurden die Opfer verhaftet. Auch in Werne wurden die jüdischen Familien, die nicht flohen, deportiert und umgebracht. Schicksale wie das der Familie Spiegel, die von Bäuer*innen der umliegenden Gemeinden und Familie Sickmann in Werne versteckt wurden, bildeten die absolute Ausnahme. Seit dem Nationalsozialismus ist jüdisches Leben in Werne nicht mehr öffentlich präsent.
Heute erinnern wir an die Verbrechen an jüdischen Menschen, aber auch an allen anderen Verfolgten des Naziregimes. Doch das war nicht immer so, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wurde lange vor sich hergeschoben. Immer wieder mussten Menschen dafür kämpfen, dass die Vernichtung ihrer Verwandten als Ausdruck des Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus der konstruierten Volksgemeinschaft anerkannt wird – manche wie z.B. Roma und Sinti müssen noch heutzutage darum kämpfen. Mensch könnte sagen: die Mühlen der Aufarbeitung mahlen langsam – und oft nur widerwillig.
Entsprechend lang ist auch die Liste der Eklats, die mit dem Prozess der Aufarbeitung verbunden waren. Auf Bundesebene beispielsweise wurden ehemalige Nazifunktionäre Bundeskanzler, auf Ebene der Stadt Werne sind bis heute Straßen nach Anhänger*innen des NS-Regimes, Antisemit*innen und Nationalist*innen benannt und auf der offiziellen Gedenktafel stand bis vor wenigen Tagen der glorifizierende Begriff „Reichskristallnacht“ – seit heute gibt es eine neue Tafel und in einem Akt besonderer Anstrengung bei der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit und in (hoffentlich) vollem Bewusstsein, wie wichtig Worte sind, wenn die Erinnerung an und die Trauer wegen vergangener Taten nur aus diesen Worten besteht, rang sich der die Mehrheit im Kulturausschuss der Stadt Werne dazu durch den Begriff durch ein „sogenannt“ zu ergänzen. Zu einer klaren Distanzierung scheint die Stadt sie offenbar auch nach Jahren, in denen die Kritik immer wieder artikuliert wurde, nicht in der Lage. Das ist einer der Gründe, wieso wir heute hier stehen – weil wir überzeugt sind, dass das Gedenken an die Novemberpogrome nur ernst gemeint sein kann, wenn die gewählte Bezeichnung, diese nicht verherrlicht.
Ein weiterer Grund ist, dass wir über die Erinnerung hinaus, aufzeigen wollen, dass mit der Niederlage des Nationalsozialismus, die Einstellungen der Menschen in Deutschland nicht einfach verschwanden, dass die Ideologien von damals auch heute noch präsent sind – und im Laufe der deutschen Geschichte immer wieder ihre Opfer forderten wie bei den Brandanschlägen in Mölln und Solingen.
Der Antisemitismus ist noch lange nicht besiegt, wenn ein deutscher Beamter von Judengenen reden kann und einen Teil von knapp 20% der deutschen Bevölkerung hinter sich weiß, denen in Studien immer wieder antisemitische Einstellungen attestiert werden. Wenn wie im Sommer rechte, islamistische, vermeintlich linke und wieder mal „ganz normale“ Menschen auf die Straßen gehen und „Juden ins Gas“ oder über die Lautsprecher eines Polizeiwagens „Kindermörder Israel“ rufen. Wenn sich Kritik an den Verhältnissen wie bei den vorgeblichen Mahnwachen für den Frieden in antisemitische Verschwörungstheorien ergeht.
Der Rassismus ist noch lange nicht besiegt, wenn Flüchtlingsheime angegriffen werden und die Mehrheit der Menschen das entweder nicht mitkriegt, es nicht interessiert oder es wie damals in Rostock-Lichtenhagen sogar beklatscht. Wenn etablierte Parteien von „Asylbetrug“ schwadronieren und Geflüchtete in Containern untergebracht werden, wenn sie nicht schon an den EU-Außengrenzen auf hoher See zurückgeschickt werden. Wenn sich bei Protesten gegen Asylbewerber*innenunterkünfte Neonazis und besorgte Bürger*innen die Hand reichen und rassistische Angriffe vom Aufarbeitungsweltmeister nicht als solche anerkannt werden.
Der Nationalismus ist noch lange nicht besiegt, wenn in Deutschland immer noch die Identifikation mit der eigenen Nation nicht als ein Problem sondern als wünschenswert wahrgenommen wird und als Konsequenz dieser Identifikation, sich die Wut gegen diejenigen entlädt, die dem Projekt „erfolgreiches Deutschland“ vermeintlich im Wege stehen wie „Sozialschmarotzer*innen“, „raffende Bänker*innen“ oder eben „Asylbetrüger*innen“. Wenn Parteien mit deutschnationalen Parolen in Europa-, Bundes- und Länder- und Kommunalparlamente einziehen. Und der Nationalismus ist verdammt nochmal nicht besiegt, wenn ein Fußballturnier dazu führt, dass Massen von Menschen wieder mit „Deutschland über alles“ oder Hitlergrüßen beim Public Viewing leben können.
Die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit verkommt zu leeren Worten, wenn die an heutige Verhältnisse angepassten Formen der damaligen Ideologien nicht konsequent angegangen werden. Dazu wollen wir hier heute ermutigen. Das schöne Leben für alle bedarf der Überwindung der Einstellungen, die dafür sorgen, dass die Vergangenheit bis heute in Teilen fortexistiert.

Für eine kritische und auch selbstkritische Aufarbeitung!
Erinnern heißt Kämpfen!
Keine Zukunft der deutschen Vergangenheit!

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